11
Am Sonntag war der Himmel wieder blau und klar. Willem hatte zunächst daran gedacht, wie schon so häufig, zum »White Horse« nach Parsons Green zu fahren, um in der üblichen Runde den Sonntagvormittag zu verbringen. Aber er war der Gesellschaft der selbstgefälligen Aufsteiger überdrüssig, die mit ihrem geschäftlichen Erfolg ebenso prahlten wie mit ihrem letzten Freitagabendbesäufnis.
Gegen vier Uhr nachmittags sollte er bei Nikita sein. Er müsste ihnen klar machen, dass sie sorgfältig planen, sich Zeit lassen, nichts überstürzen dürften. Er wollte nicht als Feigling dastehen, als jemand, der, sobald es ernst wird, kneift. Er müsste sie in dem Glauben lassen, dass er weiterhin der Boss ist. Ihm würde schon etwas einfallen. Aber er konnte jetzt nicht einfach aussteigen. Sonst würde er die Kontrolle verlieren, sagte er sich. Er müsste nur etwas Zeit gewinnen. Er wollte ihnen deshalb sagen, alles noch einmal gut zu überlegen und besser noch ein paar Wochen zu warten, bis sie jede Einzelheit festgelegt und jedes Risiko ausgeschlossen hätten.
Die orangefarbene Mappe mit den Zeitungsartikeln über Hewitt lag mitnahmebereit auf dem Tisch. Willem schrieb auf einen Briefbogen die Daten der Geschäftskarte ab, die Hewitts hübsche Assistentin ihm im Antiquitätengeschäft gegeben hatte. Die Privatnummer unterstrich er dreimal und versah sie mit einem dicken Ausrufezeichen. Er legte die Abschrift zu den Artikeln und Notizen. Die Karte selbst wollte er behalten.
Willem blätterte die »Sunday Times« durch, fand aber nichts über Hewitt. Warum auch? Die Zeitungen würden erst wieder zu Prozeßbeginn über den Fall berichten, oder wenn er eine überraschende Wendung nahm.
Das Fernsehen zeigte einen alten Truffaut-Film, »Das Geheimnis der falschen Braut«, mit Catherine Deneuve und Belmondo. Er hatte den Film mindestens dreimal gesehen. Das machte ihm nichts. Er liebte ihn. Zudem würde er ihm die Wartezeit verkürzen. Willem fragte sich, ob er genauso wie Belmondo in dem Film, genauso absolut eine Frau lieben könnte, für sie alles aufgeben würde, für sie sogar morden würde. Ja, er würde es tun. Auch wenn er wüsste, dass diese Frau eine Betrügerin, eine ehemalige Prostituierte ist, die ihn um sein Vermögen gebracht hat, sogar zu vergiften versuchte? – Anne-Marie war nicht wie Catherine Deneuve. Anne-Marie war weicher, mädchenhafter. Aber er würde für sie das Gleiche tun. Es wäre das Leben! Sobald Hewitt hinter Gittern säße, würde er sich Anne-Marie nähern. Dann würde das Leben beginnen.
Seine Idee, an Hewitts Geld heranzukommen, indem er seine Tochter entführte, kam ihm inzwischen wie ein Hirngespinst vor. Es gäbe sicherlich auch eine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen. Inzwischen erschien ihm die ganze Entführung das Phantasieprodukt eines Kranken zu sein, der, wie er sich eingestehen musste, er selbst gewesen war.
Willem hatte keine Schwierigkeiten, Nikitas Haus zu finden. Es war ein kleines schäbiges Reihenhaus in einer Seitenstraße der Uxbridge Road. Er wäre früher da gewesen, wenn die Straßen nicht mit Ausflüglern verstopft gewesen wären. Auch hier waren an der Tür keine Namensschilder. Er drückte auf die unterste Klingel.
Nikita öffnete die Tür.
»Hey! Wie geht’s? Toll, dass du da bist. Dein Wagen?«
Nikita schaute auf Willems gelben Mercedes, der direkt vor dem Haus stand. Willem nickte.
»Nicht schlecht.«
Er reichte Nikita die Hand und erhielt den ihm schon bekannten festen Händedruck, der fast schmerzte.
»Geh nur gleich durch! Wir hocken alle in der Küche. Pia nimmt eine Dusche. Sie kam erst heute früh vom Tanzen zurück.«
Gefolgt von Nikita, betrat Willem die Küche, die zu einem kleinen Hof hinausging. Wider Erwarten würde er mit Nikita und Pia nicht alleine sein. In der Küche standen ein kleiner Rothaariger und eine fette Blonde herum und tranken Dosenbier. Auch vom Hof hörte Willem Stimmen.
»Leute, darf ich euch meinen Freund Willem vorstellen?«
Der kleine Rothaarige reichte Willem die Hand.
»Ich bin Patrick.«
»Und ich bin Cathy«, sagte die Dicke mit breitem amerikanischem Akzent.
»Patrick und Cathy leben hier. Und die beiden dort sind unsere Freunde Nicola und Michail, die uns die Langeweile vertreiben wollen.«
Vom Hof schauten zwei unrasierte Gesichter herein. Die beiden winkten Willem mit Zigaretten in den Händen zu. Auch er hob die Hand.
»Nicola macht übrigens eine hervorragende Pizza. Also wenn du mal Appetit auf Pizza hast, musst du ihn in seinem Laden in Soho besuchen. Und Michail ist Russe wie ich. Wir arbeiten zusammen.«
Willem sah Nikita an.
»Ach, du weißt ja gar nicht. Ich habe mit Michail ein tolles Unternehmen, Klempnerarbeiten, Autoreparaturen, alles, was so anliegt. Nicht ganz offiziell, wegen der Steuern, verstehst du.«
Er kapierte. Beide arbeiteten schwarz und kassierten wahrscheinlich nebenbei Sozialhilfe.
»Wenn du also mal einen Handwerker brauchst, gib uns Bescheid. Wir machen alles.«
Nicola und Michail unterhielten sich draußen weiter, ohne sich um Willem oder die anderen zu kümmern. Die dicke Amerikanerin grinste ihn an, während der kleine Rothaarige ihn aus seinen glasigen Augen genau beobachtete.
»Willst du auch ein Bier?«, fragte Nikita und drückte Willem, ohne seine Antwort abzuwarten, eine Dose in die Hand. »Ich weiß, es sieht hier wie im Saustall aus. Aber wir hatten hier gestern eine kleine Party. Wir haben jeden Tag eine Party, nicht wahr Cathy?«
Die Dicke quiekte vor Lachen. Willem schaute sich um. Die Küche sah tatsächlich wie ein Saustall aus. Überall standen Dosen und Flaschen herum, schmutzige Gläser und Geschirr mit Essensresten.
»Bist du hungrig? Es dauert nicht lange. Das Essen ist so gut wie fertig. Wir brauchen es nur aufzuwärmen.«
Nikita beugte sich über einen riesigen schwarzen Topf, der auf dem schmuddeligen Herd stand. Willem hoffte, Pia würde bald erscheinen.
»Ach, Patrick, Willem ist Journalist. Er schreibt über Politik und so«, bemühte sich Nikita freundlich, ein Gespräch zwischen beiden in Gang zu bringen. »Patrick hat auch was mit Politik zu tun.«
»So? Was machst du?«, fragte Willem, um nicht unhöflich zu erscheinen.
»Ich arbeite für eine Politik-Agentur. Wir wollen den Engländern klar machen, wie es wirklich in Irland aussieht. In den englischen Zeitungen steht ja nur Müll über Irland. Schreibst du auch über den Friedensprozess? Bist du mal drüben gewesen, in Belfast oder Derry?«
Willem ahnte, worauf Patrick hinaus wollte. Aber eine politische Debatte war das letzte, wonach ihm der Sinn stand, vor allem nicht über Irland. Er war dort gewesen und hatte die brutalen Gesichter der Typen gesehen, die sich gegenseitig bis aufs Blut hassten, mit Steinen bewarfen und Brandsätze in die Häuser schmissen. Für ihn waren das alles Verbrecher. Aber es interessierte ihn nicht mehr.
»Ja, ich war dort, aber mehr als Tourist. Ich habe auch mehr über das Königshaus und solche Geschichten geschrieben, weniger über Politik. Inzwischen arbeite ich gar nicht mehr als Journalist. Ich bin dabei, mir etwas anderes zu suchen.«
»Schade. Ich hätte dir sonst ein paar Geschichten liefern können, wahre Geschichten«, sagte der Rothaarige mürrisch und enttäuscht, dass er in Willem keinen Abnehmer für seine Wahrheiten gefunden hatte.
»Nettes Haus habt ihr hier. Und Shepherd’s Bush ist keine schlechte Lage«, versuchte Willem das Gespräch auf etwas Unverfängliches zu lenken.
In Wahrheit mochte er Shepherd’s Bush nicht. Für ihn war es nur ein Sammelsurium abgerissener Gestalten.
Der Rothaarige starrte Willem immer noch giftig an. Dafür stieg die Dicke in die quälende Unterhaltung ein.
»Ich liebe London. Es ist so eine spannende Stadt. Ich liebe die Leute hier. Alle sind so nett.«
Willem schaute Hilfe suchend zu Nikita herüber. Er war aber damit beschäftigt, etwas Ordnung in die Küche zu bringen. Und Pia ließ immer noch auf sich warten.
Der Rothaarige schüttete weiter das Dosenbier in sich hinein. Er schien gleich vor Wut zu platzen. Offensichtlich hatte er Willems Ausweichmanöver durchschaut. Willem bemühte sich, möglichst harmlos zu wirken.
»Und was machst du in London?«, fragte er die Dicke scheinbar interessiert.
»Ich genieße das Leben.« Die Dicke lachte wieder und sah dabei den kleinen Rothaarigen zweideutig an. »Leider muss ich in drei Wochen in die Staaten zurück. Mein Dad wünscht, seine kleine Cathy wieder bei sich zu haben.«
Willem war angewidert bei der Vorstellung, dass der kleine Rothaarige die Dicke befriedigen musste. Obwohl er ihn unsympathisch fand, tat er ihm beinahe Leid.
Endlich tauchte Pia auf. Ihr kurzes schwarzes Haar war noch feucht. Sie sah blass aus, schien aber guter Laune.
»Hey, Will! Amüsierst du dich?« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte ihm leise ins Ohr: »Keine Angst. Wir sind gleich unter uns.«
War es ihm anzusehen, dass er sich unbehaglich fühlte?
Als hätten sie gehört, was Pia ihm zugeflüstert hatte, setzten sich Patrick und Cathy in Bewegung. Auch Nicola und Michail kamen vom Hof herein. Cathy sagte, sie wollten zu einem Rockkonzert gehen, gleich hier in Shepherd’s Bush.
»Ihr wollt wirklich nicht mitkommen?«
»Nein, wirklich nicht. Wir wollen nur was essen und ein wenig quatschen. Die letzte Nacht hat mich wirklich geschafft«, sagte Pia.
Die Vier sagten noch, dass sie sich freuten, Willem kennen gelernt zu haben, und zogen ab. Willem wünschte ihnen einen schönen Abend.
Nikita machte sich am Herd zu schaffen, während Pia sich auf einen Stuhl setzte, auf einen anderen ihre nackten Füße legte und sich eine Zigarette anzündete. Willem war verlegen. Er glaubte, sie warteten darauf, dass er das Gespräch beginnen würde.
Also fing er einfach an zu erzählen, was er bislang herausgefunden hatte. Er schlug die Mappe auf und schilderte ihnen die gesamte Hewitt-Affäre, von den ersten Ermittlungen über die konkreten Vorwürfe und über Hewitts Lebenswandel bis hin zur Anklageerhebung, den ungewöhnlichen Fernsehauftritt von Anne-Marie und die Zeitungsberichte darüber eingeschlossen. Anhand seiner Notizen legte Willem dar, was er über die Gewohnheiten der Hewitts in Erfahrung gebracht hatte, wann Patricia zur Schule chauffiert und wieder abgeholt wurde, sowie die ungefähren Zeiten, wann sie im Holland Park mit ihrem Hund spielte, entweder in Begleitung des Vaters oder der Mutter. Zu guter Letzt gab er die private Telefonnummer preis und schilderte detailliert, wie er sie bekommen hatte.
Weder von Pia noch Nikita, die Willem an keiner Stelle unterbrochen hatten, kam eine Reaktion. Pia saß mit verschränkten Armen da und wirkte abgespannt. Nikita schöpfte aus dem großen schwarzen Topf, den er die ganze Zeit umgerührt hatte, eine dicke bräunliche Flüssigkeit auf drei Teller und stellte sie auf den Tisch sowie drei neue Dosen Bier.
»Lasst es euch schmecken!«, sagte Nikita. »Am zweiten Tag ist die Suppe noch besser als am ersten. Dann ist sie richtig durchgezogen.«
Willem wartete, dass sie irgendetwas sagen würden. Diskret wischte er seinen Löffel mit seinem Taschentuch unter dem Tisch ab und begann zu essen.
»Und was haltet ihr von meinem kleinen Vortrag? Ich weiß, viel ist es nicht«, sagte er wie nebenbei.
»Toll, ja ganz toll«, meinte Nikita.
Es klang aber wenig enthusiastisch, weit weniger als sonst.
»Das mit der Telefonnummer ist toll«, sagte Pia anerkennend. »Die musst du uns aufschreiben.«
»Hab ich schon.«
Pia setzte wieder an, ohne Willem anzusehen.
»Wir haben uns auch so unsere Gedanken gemacht. Wir dachten, wir nehmen Michails Lieferwagen, und auf geht’s zum Holland Park, schnappen uns die Kleine, und fahren, bis es dunkel wird und die Büros in meinem Haus geschlossen sind, in der Gegend herum. Dann nehmen wir die Kleine zu mir, rufen Hewitt an und sagen, wie viel wir haben wollen. Nur die Frage der Lösegeldübergabe ist noch offen.«
»Was denkst du, was können wir von Hewitt verlangen?«, schaltete sich Nikita wieder ein.
Willem wusste nicht recht, was er antworten sollte. Er war erschrocken. Pia und Nikita stellten sich die Entführung sehr einfach vor, allzu einfach, dachte er.
»Nun sag schon! Was können wir aus Hewitt rausholen? Du weißt doch über seine Vermögensverhältnisse Bescheid«, hakte Pia nach.
»Ich denke so zweihundert oder dreihundert Tausend Pfund«, sagte Willem.
Tatsächlich hatte er an einen wesentlich höheren Betrag gedacht. Aber er wollte Pia und Nikita die Entführung nicht allzu lohnend erscheinen lassen.
Die beiden schauten sich an.
»Das wären für jeden etwa einhunderttausend Pfund. Gar nicht schlecht! Toll!«
Nikita schien mit der Summe zufrieden zu sein, Pia aber nicht.
»Meinst du nicht mehr? Ich hatte an eine Million Pfund gedacht. Schließlich ist sie die einzige Tochter. Und Hewitt ist schwerreich.«
»Vielleicht«, sagte Willem.
Mehr fiel ihm nicht ein. Er stand immer noch unter Schock. Dass Pia und Nikita die Entführung quasi im Hopplahopp durchziehen wollten, hatte er noch nicht verarbeitet. Und ihre Entschlossenheit erschreckte ihn.
»Und noch eins«, sagte Pia. »Du musst Nikita noch das Mädchen zeigen. Nicht, dass er sich das falsche schnappt. Oder willst du es tun? Ich denke nicht. Du hattest die Idee und schon genug Arbeit. Später kannst du die Verhandlungen mit Hewitt führen. Und Nikita muss sich seinen Anteil erst verdienen.«
»Klar, mache ich. Am besten fahren wir bei Gelegenheit gemeinsam zum Holland Park und zur Schule. Dann zeige ich dir Patricia und auch Anne-Marie, ich meine die Frau von Hewitt«, sagte Willem zu Nikita. »Übrigens, deine Suppe ist ausgezeichnet.«
»Toll, dass sie dir schmeckt. Das ist Soljanka. Eine russische Spezialität.«
Nikita holte jedem noch eine Dose Bier.
Pia erzählte dann, dass sie und Nikita nach der Entführung London sofort verlassen wollten. Sie würden nach Spanien gehen und sich ein Hotel kaufen oder ein Haus, das sie zu einem Hotel umbauen würden.
»Nikita ist wirklich toll in solchen Sachen. Er kann einfach alles. Will, was wirst du tun, wenn alles vorbei ist?«
»Ich glaube nicht, dass es sich schon lohnt, darüber nachzudenken. Noch haben wir das Geld nicht. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.«
Willem verabschiedete sich gegen neun Uhr. Er wollte vermeiden, der dicken Amerikanerin und dem unausstehlichen Iren nochmals zu begegnen. Die anderen beiden, die im Hof herumgelungert hatten, waren schon seiner Erinnerung entschwunden. Er nahm den orangefarbenen Schnellhefter an sich, ließ nur die Abschrift von Hewitts Geschäftskarte mit der Privatnummer da und setzte sich, leicht angetrunken, in seinen Wagen. Wütend über sich, Pias und Nikitas Entschlossenheit nichts entgegengesetzt zu haben.